Familie KOHLENPRATH
Wir sind Nachfahren derer, die damals einen Ort – das Haus Brodi 1, Loibltal – erschaffen haben, unmittelbar an der zum Loibl führenden Straße auf der Nordseite der Karawanken. Gemeinsam haben wir entschieden, die Geschichte des Ortes Interessierten zugänglich zu machen. Durch das Erzählen unserer Geschichte und der unterschiedlichen Lebenswege unserer Vorfahren geben wir Menschen Zugang zu der mit Tabus behafteten Zeitgeschichte, treten mit ihnen und ihrer Geschichte in Verbindung und ermutigen sie dazu, im eigenen Umfeld aufmerksam hin zu hören und Fragen zu stellen.
Das Haus Brodi 1, Loibltal
Das Haus Brodi 1 im Kärntner Loibltal war im Rahmen der Landesausstellung CARINTHIja2020 Austragungsort des Projektes Das Gedächtnis des Ortes · Kraj in njegov spomin. Ein Jahr lang wurde die Holzhütte zum öffentlichen Lesesaal, zum Ausstellungs-, Erzähl- und Zuhörraum. Im Haus und am Neuen Platz fanden Lesungen, Vorträge und Konzerte statt.
Das Haus Brodi 1 wurde 1896 von dem k. u. k. Straßeneinräumer Miha Kohlnprat und seiner ersten Frau Neža errichtet. Anhand seiner Geschichte, der Rekonstruktion der Lebenswege seiner Bewohner:innen sowie der Erzählungen von Hanzi Kohlenprath, dem Sohn von Zefi und Paul Kollenprat und Vater von Renate Rogi-Kohlenprath und Petra Kohlenprath, ermöglichte das Projekt Zugang zu österreichischer Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Petra Kohlenprath setzte in ihren Interventionen persönliche Erfahrungen, familiäre Erzählungen und die durch Dokumente, Postkarten und Fotografien transportierten Inhalte, biografische Erzählungen anderer und das Wissen von Historiker:innen in Beziehung. Das ermöglichte ihr, von Mythen überdeckte oder mit Tabus belegte Themen anzusprechen und Gespräche zu eröffnen.
Folgender Text wurde von Petra Kohlenprath im Jänner 2019 für das Magazin VII verfasst. Herausgeber: Verein Pavelhaus/Pavlova hiša, Laafeld/Potrna.
Der Ort
Hat man sich aus dem Rosental kommend die kurvenreiche Straße auf die Sapotniza geschlängelt, die engen Kehren vor der Teufelsbrücke hinuntergelassen, die Lawinengalerie durchfahren, sich zum Talboden hinab begeben, den Loiblbach noch einmal überquert, vom Brems- wieder auf das Gaspedal gewechselt und endlich den seit Kilometern Nervenden zügig überholen können, dann ist man schon – vorbeigefahren.
Loibltal/Brodi 1. Ein Haus, unmittelbar an der von Kärnten ins benachbarte Slowenien führenden Landesstraße. Seit mehr als 30 Jahren ist es bereits unbewohnt. Um sich weiter auszudehnen schickt der Wald junge Bäumchen aus, doch meine Eltern machen ihm beharrlich einen Strich durch die Rechnung und kümmern sich um den Fortbestand der bunten Wiese, erhalten Jahr für Jahr den fröhlich blühenden Blumen ringsum ihren Raum. Um den an der Bausubstanz nagenden Zahn der Zeit besser Herr bleiben zu können, haben meine Eltern den Schweinestall, den Holzverschlag beim Bach und das in den Hang greifende Zimmer vor knapp 15 Jahren abgerissen. Im Ausgleich für die Verkleinerung bekam die bestehen gebliebene Dachfläche des Hauses neue Holzschindeln. Ob diese auch mehr als 100 Jahre halten werden?
Loibltal/Brodi – das geschichtliche Erbe
Die politischen Umbrüche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben fünf Kilometer südlich des Hauses Loibltal/Brodi 1 eine harte Grenze gezogen und Slowenisch, die Sprache die bislang in allen Häusern des Ortes gesprochen wurde, endgültig zur unerwünschten erklärt.
Die Neuordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse, der Fortschritt des 19. Jahrhunderts und die politischen Veränderungen des 20. Jahrhunderts hinterließen im Loibltal ihre Spuren. Manche davon gewiss in ganz Österreich, die geografische Lage bedingte aber noch weitere.
Zu den langfristig prägendsten Einschnitten zählten für die Einwohnerinnen und Einwohner des Loibltales wohl:
– das Erklären der ursprünglichen Erstsprache der Einwohnerinnen und Einwohner als die des Feindes,
– der Zerfall der Monarchie und das Hin und Her um das damit notwendig gewordene Ziehen einer neuen Grenze – das schlussendlich am Südende des Tales erfolgte.
– Die Abwanderung aufgrund fehlender oder für manche aus politischen Gründen nicht mehr zugängliche Arbeitsstellen.
– Das Nicht-Einhalten von Versprechen gegenüber den für Österreich stimmenden Slowenisch-Sprechenden seitens der Politik nach der Volksabstimmung 1920.
– Die Erfordernis sich im wachsenden Nationalismus zu der einen oder anderen Seite, einer der Volksgruppen, bekennen zu müssen.
– Der Schutz des eigenen Lebens und das der Familie.
– Der Umgang mit dem Wissen um die Errichtung der Außenstelle KZ Mauthausen Loibl Nord und Loibl Süd zum Bau des Loibltunnels.
– Die Sperre der Grenze über den Loibl.
– Das Ausblenden der Ereignisse und Schicksale beider Weltkriege und zum wiederholten Male:
– Die Nichteinhaltung von Versprechungen gegenüber den Slowenisch-Sprechenden seitens der Politik unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges und insbesondere nach der Unterzeichnung des Staatsvertrages 1955.
Ein radikales Abschneiden der gemeinsamen Vergangenheit der Region und die Tabuisierung der Ereignisse aus der kollektiven Erinnerung über viele Jahrzehnte hinterlässt Menschen bis heute “sprachlos”. Die Weitergabe des Vergangenen in Form von Mythen sorgt dafür, dass der Keil zwischen den Menschen gut verankert bleibt. Schubladen für „die Guten“ und „die Bösen“, „die Helden“ und „die Verräter“. Tiefes Schweigen.
Der Sog dieser Ereignisse ist heute unter den Einwohnerinnen und Einwohner von Loibltal/Brodi noch spürbar und zeigt seine Wirkung. So wurden 2007 im Zuge einer Kirchensanierung – die durch einen großzügigen, privaten finanziellen Zuschuss ermöglicht wurde – die slowenischen Aufschriften von den ursprünglichen Kreuzwegbildern abgesägt und die mit slowenischen Versen bestickten Altartücher im Müll wiedergefunden. Dem slowenischen Kirchenbeirat erklärte der damalige Bischof Alois Schwarz: „Könnt´s Deitsch? Dann gibt´s a Ruh´!“
Die abgesägten slowenischen Aufschriften wurden in Folge durch zweisprachig beschriebene, unter die Kreuzwegbilder montierte Täfelchen ersetzt.
Petra Kohlenprath auf die Frage: “Wo sind deine Wurzeln?” Blogtext, 2015, Schauspielhaus Graz
„Ich stamme aus einer österreichischen Familie. Mein Vater ist 1939 in eine Slowenisch sprechende Familie in Loibltal/Brodi geboren worden und heiratete 1966 meine aus dem damaligen Jugoslawien, heute Slowenien, stammende Mutter. Zur Schule ging ich erst in Ferlach, danach in Klagenfurt. Ich habe keine Erinnerung daran, ob meine Eltern „mehr Slowenisch“ oder „mehr Deutsch“ mit mir gesprochen haben. Es waren im Alltag, ob denn zu Hause oder in der Öffentlichkeit, immer beide Sprachen präsent. Kulturelle Tätigkeiten (Chor, Musikschule, Theater) und Kirche waren aber immer Slowenisch besetzt, wie auch die Wochenendausflüge nicht in österreichische Gegenden stattfanden, sondern ins damalige Jugoslawien führten. Warum ich denn nicht ins slowenische Gymnasium ginge, dafür musste ich mich regelmäßig – in Erinnerung ist es mir eigentlich: täglich – vor Schulkollegen und mich fragende Erwachsene rechtfertigen – auch vor Angehörigen der slowenischen Minderheit. Ich bin mit dem Anderssein, sowohl auf der „Mehrheits-“ als auch auf der „Minderheitenseite“, aufgewachsen. Dass mein Vater von Ereignissen weiß, über die sonst niemand spricht, und Erlebtem erzählt, das nicht in Geschichtsbüchern steht, war mir sehr früh klar. Heute – seit fast 23 Jahren nahezu durchgehend in Graz lebend – sage ich: Ich stamme aus einer Slowenisch-Deutsch schweigenden Familie.“
INTERFERENZEN: Episoden 0, 1, 2,3 & 4
Im Mai 2015 wurde im Grazer Schauspielhaus mein Text na pamet – Aus dem Gedächtnis einer Slowenisch-Deutsch schweigenden Familie im Rahmen einer Veranstaltung in Erinnerung an den 60. Jahrestag der Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrages gelesen. Das Verfassen dieser Arbeit hat mich zu den Wurzeln meiner Herkunft geführt und meine – bis zu dem Zeitpunkt alles andere als freundliche – Beziehung zu dem Ort, an dem die Geschichte ihren Anfang nimmt, aus einer neuen Perspektive sehen lassen. In Anlehnung an Ingeborg Bachmanns Aussage „Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar“, fühlte ich ein: „Meine Wahrheit ist zumutbar“ und sah mich im Haus im Loibltal den Text lesen, in Überzeugung, dass wenn der Ort an dem mein Text seinen Ursprung hat die von mir verfassten Worte hört, sich seine Geschichte verändern wird. Die Mundwinkel meiner Schwester Renate lachten als ich meine Gedanken mit ihr teilte und sie fügte hinzu: „Da laden wir aber schon noch ein paar Gäste dazu ein.“
Wenige Wochen später eröffneten im Atem von Fredi Lang die Klänge des Flügelhorns die INTERFERENZEN im Loibltal. Geschichtlich unbelastet? Die Klänge schon – das Flügelhorn nicht. Meine Großmutter hat es während des Rückzuges im Bachbett gefunden. Mein Vater bewahrt es seither auf.
Ich bin aufgewachsen in einem Raum voll mit Erinnerungsspuren, Erzählungen und Geschichten meiner Eltern, die außerhalb des unmittelbaren Familiensystems nicht vorhanden waren. Viele Stunden verbrachte ich als Kind am Dachboden im Haus im Loibltal und fand auf in Schachteln aufbewahrten alten Postkarten und Urkunden Namen von Menschen, deren Stimmen und Gesichter ich nicht kannte, deren Lebensgeschichten mein Vater mir aber immer und immer wieder leidenschaftlich erzählte und ich seine Erinnerungsräume über Jahrzehnte hinweg immer und immer wieder ohnmächtig verließ – zu groß war für mich die Spannweite zwischen den für mich die Inhalte der Erzählungen großflächig überschattenden Emotionen meines Vaters, die in der längst gewesenen Vergangenheit ihren Ursprung hatten und dem gesellschaftlichen Konsens, worüber gesprochen wird, woran erinnert wird, aus welchem Brennpunkt Geschichtserzählung erfolgt.
Aus: na pamet – Aus dem Gedächtnis einer Slowenisch-Deutsch schweigenden Familie, 2015
Im Geschichtsunterricht
Wir bereiten uns auf den bevorstehenden Besuch im KZ Mauthausen vor. 1988. Ich hebe die Hand und sage, dass es im Loibltal zum Bau des Loibltunnels auch ein Lager gegeben hätte. Die Geschichtsprofessorin schüttelt den Kopf, winkt mit der Hand ab, murmelt, von mir aus dem Konzept gebracht: „So ein Blödsinn!“, und geht weiter in ihrem Programm.
Ich verharre in Verwunderung. Mache meinen Mund nicht noch einmal auf.
Warum gerade dieser Ort?
Gewiss, es ist das Elternhaus meines Vaters. Er wurde im Zimmer, in dem jetzt noch der Kachelofen steht, geboren. Genauso wie sein Vater, damals. Das allein ist schon Grund genug, sich um den Erhalt zu kümmern, auch wenn es derzeit von niemandem bewohnt wird. Wagt man sich aber Fragen zu stellen und hört gut hin, so werden darüber hinaus viele Anlässe erkennbar, es Wert zu schätzen, dass der Ort Loibltal/Brodi 1 bestehen geblieben ist.
Aus: na pamet – Aus dem Gedächtnis einer Slowenisch-Deutsch schweigenden Familie, 2015
Die Leiter
1972. Meine Eltern bauen unser Heim in Ferlach. Um den höher gelegenen Teil des Dachbodens zugänglich zu machen, wird eine ungenützte Leiter aus dem Haus im Loibltal als Zwischenlösung aufgestellt. Meine Mutter hasst das Stück.
Woher diese Leiter käme? Aus dem Loibltal. Es sei ja alles einfach so rumgelegen, nachdem sie die Baracken vom KZ abgerissen hatten. Und es hätte ja sonst nichts gegeben, und so hat der Opa halt, was er glaubte mal brauchen zu können, mitgenommen.
Ich bin fünf oder sechs Jahre alt, als ich mir an der Leiter einen Speil im Finger einziehe. Nach erfolgreicher Entfernung verlässt mich mein Kreislauf und ich falle die Kellertreppe hinunter. Jetzt hasse ich das Teil auch.
1989. Die Mutter beauftragt einen Tischler, und lässt sich am Dachboden eine Holztreppe bauen. Der Vater bringt die Leiter zurück ins mittlerweile leerstehende Haus im Loibltal.
Gute Wegbegleiter
Es ist ein anhaltender Prozess, in seiner Schwere begleitet von „glücklichen Zufällen“, „anderen Zeiten“ und „unendlicher Ausdauer beiderseits“, in dem sich in den vergangenen Jahren meine gefühlte Spannweite zwischen den brennenden Erzählungen meines Vaters und den (Mythen-) Geschichten des gesellschaftlichen Umfeldes enorm verkürzt hat und meine Ohnmacht obsolet geworden ist.
Einer dieser „glücklichen Zufälle“ war mein Begreifen, dass meine Geschichte ein Teil des Garnes ist, der die Spannweite zwischen den mir begegnenden Geschichten überbrückt. Im Nachgehen dieses meinen Fadens, der aus der „Was-hat-das-mit-mir-zu-tun-Faser-?“ gedrillt ist, wurde es mir möglich zu erzählen was ich erfahren habe, von welchen Begebenheiten ich weiß.
Durch die Erinnerungen meines Vaters, die unzähligen Bücher, Briefe, Postkarten, Urkunden und Gegenstände, die im Haus Loibltal/Brodi 1 erhalten geblieben sind, ist es möglich von Leben zu erzählen, dass in einer Zeit großer politischer Zerwürfnisse und gesellschaftlicher Umwälzungen statt fand. Das Haus Loibltal/Brodi 1 ist in einer Zeit stehen geblieben, als sich Dinge ereigneten, über die nachfolgende Generationen vielerorts aufgrund ihrer Last geschwiegen haben, die Tradition der Weitergabe von Wissen von Generation zu Generation abgeschnitten wurde und darüber hinaus nicht nur die Erzählung, sondern auch die Sprache selbst zum Feind erklärt wurde.
Aus: na pamet – Aus dem Gedächtnis einer Slowenisch-Deutsch schweigenden Familie, 2015
Der Ort der Kindheit meines Vaters
Damals, als Menschen noch zu Fuß ihre Alltagswege bestritten, war das Haus Loibltal/Brodi 1 erster Ankunftspunkt für Ankömmlinge und damit auch Rastplatz und ein Ort der Kommunikation. Mein Vater erzählt wie er als Kind beim Ofen gesessen ist, zum Fenster hinaus geschaut hat – und nachdem das Zimmer Fenster in zwei Himmelsrichtungen hat, immer schon frühzeitig gesehen hat, wer denn unterwegs sei. Er erinnert sich an die Lastwägen und Traktoren, mit welchen die Deutschen das Baumaterial zum Bau des Loibltunnel anlieferten. Die riesengroßen Schneefräsen beeindruckten den damals knapp fünfjährigen besonders. Er erzählt davon, dass er neugierig war, wohin denn diese Lastwägen fuhren und seiner Mutter so lange in den Ohren lag, bis sie mit ihm zum Lagergelände ging. Er schreibt: „… Mit der Mutter bin ich auch durch das KZ Lager gegangen. Die gebückten Gestalten beim Gestein Transport sind für mich ganz furchterregend gewesen. … Zuhause gab es nachts Kontrollen der SS Soldaten, welche mit angeschlagenen Gewehren durch mein Zimmer stürmten und nach entflohenen Gefangenen suchten. …“. Geschundene, ausgemergelten KZ Häftlinge sind nach Auflösung des Lagers als lebende Schutzschilder der SS-ler am Haus Loibltal/Brodi 1 vorbeigetrieben worden. In den Folgetagen sah mein Vater tausende vom Krieg gezeichnete Menschen vom Süden her kommend am Weg Richtung Norden.
Sowohl Wehrmachtssoldaten als auch Partisanen gingen im Elternhaus ein und aus. Der eigene Vater war erst als Wehrmachtssoldat in Russland, dann auf Usedom, schloss sich 1944 den Partisanen an, wurde gefangengenommen, zur Hinrichtung verurteilt, wartete drei ein halb Monate auf den sicheren Tod durch das Fallbeil, entkam der Vollstreckung des Urteils.
Der Onkel meines Vaters ist bereits Mitte der 1930iger Jahre nach München zur Ausbildung gezogen und fliegt jetzt die Tante YU 52. Er zieht seine Kreise übers Loibltal. Mein Vater schaut dem tief fliegenden Flugzeug nach. Großcousins meines Großvaters waren in Hitlers Leibstandarte. Bis zu ihrem Tod sprachen sie untereinander ausschließlich Slowenisch.
Meine Schwester sagt, Loibltal/Brodi 1 sei das Haus am Schnittpunkt der Welten. Es klingt pathetisch, aber egal wie ich es drehe und wende, sie hat Recht. Es ist das Haus am Schnittpunkt der Welten. Es selbst ist eine Verortung der Katastrophe – die bis heute noch kein Ende genommen hat.